Arztgespräch mit zwei Patienten
Nachgefragt

«Die Digitalisierung des Gesundheitssystems ist eine riesige Chance.»

Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) engagiert sich seit Jahren für die Einführung des elektronischen Patientendossiers. Im Gespräch erläutern Zentralvorstandsmitglied Alexander Zimmer* und Abteilungsleiter Digitalisierung Reinhold Sojer** ihre Erwartungen.


Herr Sojer, Herr Zimmer, Ende April hat der Bundesrat das Eidg. Departement des Innern (EDI) damit beauftragt, das Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier «umfassend» zu revidieren. Was sagen Sie dazu?

Reinhold Sojer: Im Jahr 2018 haben sich die Delegierten der FMH für die Unterstützung und Verbreitung des elektronischen Patientendossiers ausgesprochen. Wir unterstützen dessen Einführung weiterhin und die FMH wird sich intensiv mit der geplanten Gesetzesrevision auseinandersetzen. Ob die vorgeschlagenen Massnahmen ausreichend sind, um das EPD voranzubringen, wird sich zeigen.

 

Was ist Ihnen dabei besonders wichtig?

Alexander Zimmer: Für Ärztinnen und Ärzte wird das EPD erst dann eine Erleichterung bringen, wenn es flächendeckend eingesetzt wird und eine kritische Masse der Bevölkerung daran teilnimmt. Solange Patientinnen und Patienten das EPD nur ausnahmsweise einsetzen, verursacht es mir einen deutlichen Mehraufwand.

 

Auch die Struktur des EPD soll verbessert werden.  

Reinhold Sojer: Wir begrüssen natürlich alles, was die Alltagstauglichkeit des EPD fördert. Dazu gehört selbstverständlich auch, dass die Daten im EPD in einer dynamischen Ablage zusammengefasst werden können.

 

Künftig sollen alle ambulant tätigen Gesundheitsfachpersonen verpflichtet werden, ein Dossier zu führen. Wie gehen Sie damit um?

Reinhold Sojer: Bei einer Pflicht zum elektronischen Patientendossier besteht die Gefahr, dass ältere Ärztinnen und Ärzte wegen der recht hohen Investitionen eine vorzeitige Praxisaufgabe in Erwägung ziehen. Dies hätte unangenehme Folgen: Bereits heute gibt es viel zu wenige Hausärzte (Externer Link: Workforcestudie des Kantons Bern). Vor der Pensionierung finden sie kaum noch Nachfolger. Dabei spielen Allgemeinpraxen im Gesundheitswesen eine tragende Rolle: 94 Prozent aller medizinischen Probleme können in einer Allgemeinpraxis abgeschlossen werden. Eine genügend langen Übergansfrist ist deshalb sicher sehr wichtig.

 

Ärztinnen und Ärzte reagierten in der Vergangenheit sehr unterschiedlich auf das geplante EPD. Welches Feedback erhalten Sie?

Alexander Zimmer: Seitens der Ärzteschaft erhalten wir unterschiedliche Rückmeldungen zum EPD. Das liegt oft daran, dass viele meiner Kolleginnen nicht wissen, was das EPD überhaupt ist, geschweige denn, wie es funktioniert. Dies führt zu einer gewissen Verunsicherung innerhalb der Ärzteschaft. Ein anderer Grund für kritische Rückmeldungen sind die damit verbundenen Investitionen und die leider durchaus berechtigte Bedenken, dass das EPD zu noch mehr administrativem Aufwand in der Praxis führen könnte, anstatt zu weniger. Das darf auf keinen Fall passieren.

 

«Studien zeigen, dass ein elektronisches Dossier das Engagement der Patientinnen und Patienten (Therapieadhärenz) fördert und den Behandlungserfolg steigert.» Alexander Zimmer

 

Wo sehen Sie die Vorteile des elektronischen Patientendossiers?

Alexander Zimmer: Das elektronische Patientendossier ist, wie der Name sagt, in erster Linie ein Dossier für Patientinnen und Patienten. Mit dem Instrument verfügen diese über wichtige medizinische Informationen aus erster Hand. Externer Link: Studien zeigen, dass ein elektronisches Dossier das Engagement der Patientinnen und Patienten (Therapieadhärenz) fördert und den Behandlungserfolg steigert.

Reinhold Sojer: Auch für die Ärzteschaft kann das elektronische Patientendossier Vorteile bieten. Nehmen Patientinnen und Patienten ihre Verantwortung wahr, erhalten Gesundheitsfachpersonen einen besseren Überblick über deren Behandlung in anderen Gesundheitseinrichtungen. Eine wichtige Voraussetzung für eine effiziente Nutzung des EPD ist die nahtlose Integration in das Primärsystem. Die Daten brauchen zudem eine Struktur, so dass wichtige Informationen schnell gefunden werden können. Wir dürfen uns zudem nicht darauf verlassen, dass Patientinnen und Patienten die Dossiers immer vollständig und tagesaktuell führen. Deshalb wird das EPD den Austrittsbericht des Spitals an die behandelnde Ärztin noch nicht ersetzen können.

 

Die FMH macht immer wieder Vorschläge für eine effiziente, praxistaugliche Umsetzung des EPD. Was ist Ihnen dabei wichtig?

Alexander Zimmer: Der Aufwand für administrative Arbeiten an einem elektronischen Patientendossier darf nicht zulasten der verfügbaren Zeit zwischen Arzt und Patient gehen. Die administrative Arbeit darf nicht zunehmen, darin sind sich alle einig.

Reinhold Sojer: Ja, das elektronische Patientendossier soll wirtschaftlich und zweckmässig eingesetzt werden. Ein Mehraufwand würde entstehen, wenn das elektronische Patientendossier den Bedürfnissen der Gesundheitsfachpersonen nicht gerecht würde. Wenn Ärztinnen und Ärzte die Dokumente manuell übertragen müssten. Oder wenn die behandlungsrelevanten Daten nicht überschaubar wären. Im Rahmen unserer Mitarbeit in der interprofessionellen Arbeitsgemeinschaft IPAG unterstützen wir die Umsetzung entsprechend den Prozessen in der interprofessionellen Zusammenarbeit.

 

«Die Digitalisierung soll die tägliche Arbeit der Ärzteschaft erleichtern.» Reinhold Sojer

 

Wie kann das elektronische Patientendossier die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte erleichtern?

Alexander Zimmer: Die FMH erarbeitet zurzeit eine Empfehlung darüber, wie das elektronische Patientendossier in die Praxisorganisation integriert und effizient genutzt werden könnte.

Reinhold Sojer: Die Digitalisierung soll die tägliche Arbeit der Ärzteschaft erleichtern. Sie darf kein Selbstzweck sein. Heute sind Ärztinnen und Ärzte mit dem Aktenstudium und administrativen Arbeiten überlastet. Der Zugang zum elektronischen Patientendossier sollte daher direkt aus den täglichen Arbeitsinstrumenten von Ärztinnen und Ärzten möglich sein. Voraussetzung dafür ist die Integration des elektronischen Patientendossiers in die entsprechenden Primärsysteme. Dadurch kann auch während einer Konsultation oder einer medizinischen Behandlung rasch auf behandlungsrelevanten Daten zugegriffen werden.

 

Das kann eigentlich nicht so schwierig sein, oder?

Reinhold Sojer: Bereits heute dokumentieren mehr als 70 Prozent der ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte Patientendaten in strukturierter Form mittels einer elektronischen Krankengeschichte. In den Bereichen der Labordiagnostik und der Medikation sind die Informationen sogar hochstrukturiert. Zusätzliche Anreize könnten helfen, dass Anbieter von Praxissoftwaresystemen diese bereits strukturierten Daten so anbieten, wie es eHealth Suisse empfiehlt.

 

Offenbar möchte die Mehrheit der Bevölkerung ihr elektronisches Patientendossier beim Hausarzt eröffnen. Wie stellen Sie sich dazu?

Reinhold Sojer: Das verstehe ich. Hausärzte sind eine erste und wichtige Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten. Ich kann mir gut vorstellen, dass Arztpraxen erwägen, ihren Patientinnen und Patienten die Eröffnung eines elektronischen Patientendossiers anzubieten. Für eine durchschnittliche Konsultation haben Ärztinnen und Ärzte jedoch lediglich zwanzig Minuten Zeit. Die Eröffnung des elektronischen Patientendossiers dauert vermutlich mindestens so lang – für das zusätzliche Angebot erhalten die Ärztinnen und Ärzte keine Entschädigung.

Alexander Zimmer: Der Bundesrat hat eine entsprechende Abgeltung in Externer Link: seinem Bericht zum Postulat Wehrli abgelehnt. Dabei hätte eine neue, auf das Patientendossier abgestimmte Position aus unserer Sicht viele Vorteile. Sie wäre sachgerecht und betriebswirtschaftlich korrekt. Zudem eröffnet sie die Möglichkeit, die vom elektronischen Patientendossier verursachten Aufwände frühzeitig zu erkennen und Gegensteuer zu geben.

 

Die FMH engagiert sich seit Jahren für das elektronische Patientendossier. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit dem Bund? Werden Ihre Inputs berücksichtigt?

Alexander Zimmer: Die Zusammenarbeit empfinden wir als konstruktiv. Schliesslich verfolgen wir dasselbe Ziel, auch wenn wir in der detaillierten Umsetzung teilweise andere Schwerpunkte setzen. Die FMH hat sich beispielsweise im Gesetzgebungsprozess dafür engagiert, dass Patientinnen und Patienten für ihre Identifizierung keine AHV-Nummer benötigen. Mit dem elektronischen Patientendossier des Bundes geniessen wir nun einen hohen Datenschutz. Im Jahr 2014 haben wir die Gründung der Interprofessionellen Arbeitsgruppe «IPAG EPD» mit unterstützt. Seit November dieses Jahres sind wir ein Verein mit einem neuen Namen. «IPAG eHealth» repräsentiert rund 100 000 Gesundheitsfachpersonen, die ihre Leistungen zulasten der obligatorischen Grundversicherung abrechnen. Der Verein hat in den Bereichen Medikation und Austrittsbericht Empfehlungen erarbeitet. Der Bund setzt nun unsere Empfehlungen für die Austauschformate um.
 

Was versprechen Sie sich langfristig vom elektronischen Patientendossier?

Alexander Zimmer: Die Digitalisierung des Gesundheitssystems ist eine riesige Chance. In erster Linie natürlich für die Patientinnen und Patienten – aber auch wir Gesundheitsfachpersonen profitieren von diesem zusätzlichen Informationsinstrument. Die FMH unterstützt deshalb die Entwicklung einer wirtschaftlichen, auch auf die Bedürfnisse der Ärztinnen und Ärzte abgestimmten Lösung.

Reinhold Sojer: Wir müssen die Vorteile der Digitalisierung für alle daran Beteiligten nutzen. Dann wird sich das elektronische Patientendossier auch in der Praxis durchsetzen.


*Dr. med. Alexander Zimmer ist Mitglied des Zentralvorstandes der FMH, Departementsverantwortlicher Digitalisierung eHealth und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Dr. Alexander Zimmer


**Dr. Reinhold Sojer ist Abteilungsleiter Digitalisierung eHealth bei der FMH

Dr. Reinhold Sojer

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