Andrea Belliger
Nachgefragt

«Das EPD braucht jetzt ein starkes politisches Bekenntnis»

Andrea Belliger gilt als eine der schweizweit führenden Expertinnen für Digitalisierung im Gesundheitswesen. Wie das EPD zum Erfolg wird, erklärt sie im Interview.

Frau Belliger, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Was genau untersuchen Sie?

Zuerst einmal: Ich unterscheide gerne zwischen «Digitalisierung» und «Digitaler Transformation». Der Begriff «Digitalisierung» steht vor allem für technische Innovation – für die Daten, Tools und Technologien, die wir im Gesundheitswesen einsetzen. Er umfasst sowohl medizinische als auch administrative Prozesse.

Dagegen bezeichnet der Begriff «Digitale Transformation» eine Veränderung der Gesellschaft. Und zwar im grossen Stil. Sie reicht bis zu unseren Werten und Haltungen. Diesen gesellschaftlichen Veränderungsprozess beobachte und begleite ich als Wissenschaftlerin und Beraterin.

«Wir gewinnen wieder mehr Zeit für Patientinnen und Patienten – und die Kernaufgaben der Medizin.»

Warum braucht das Schweizer Gesundheitswesen eine Digitale Transformation? Sehnen sich Patientinnen und Patienten nicht eher nach mehr Menschlichkeit?

Menschlichkeit und digitale Transformation sind keine Widersprüche. Digitale Transformation steht für viel mehr als für Technologie, auch Menschlichkeit hat darin Platz. Wenn wir mit Hilfe der Technologie zudem Doppelspurigkeiten und Leerläufe überwinden, wird das Gesundheitswesen effizienter. Wir gewinnen wieder mehr Zeit für Patientinnen und Patienten – und für die Kernaufgaben der Medizin. Das EPD könnte hier eine wichtige Funktion übernehmen.

Die Einführung des EPD hat in den letzten Monaten Schwung aufgenommen. Was braucht es nun für einen nachhaltigen Erfolg?

Entscheidend für den Erfolg des EPD ist, dass es allen Beteiligten einen Mehrwert bietet. Den Bürgerinnen und Bürgern, den Patientinnen und Patienten, aber vor allem auch den Gesundheitsfachpersonen. Das EPD muss maximal nutzerfreundlich sein. Das Ziel ist erreicht, wenn alle Anspruchsgruppen sagen können: Das EPD bringt mir etwas! Das EPD ist eine tolle Sache! Ich selbst hatte ein solches Wow-Erlebnis mit dem digitalen Impfausweis. Ich fand ihn wirklich sehr praktisch. Der Mehrwert war sofort erlebbar.

Das aktuelle elektronische Patientendossier legt grossen Wert auf Datensicherheit.

Ja, um diesen Anspruch zu erfüllen, müssen wir aber auch einige Hürden nehmen. Vor der Eröffnung muss ich mir eine elektronische Identität einrichten. Diese sorgt für hohe Sicherheit, macht die Eröffnung aber auch komplizierter. Ich frage mich, ob dies tatsächlich nötig ist. Als Nutzerinnen von Gesundheitsapps ist mein Sicherheitsbedürfnis nicht mehr so gross. Wir bewegen uns in eine andere Richtung: Das Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit verändert sich. Wir sind zunehmend bereit, unsere Daten zu teilen – insbesondere mit der Forschung. Dies aber nur unter der Bedingung von Freiwilligkeit und Transparenz: Patientinnen und Patienten wollen die Kontrolle behalten. Sie wollen entscheiden, wer zu welchem Zweck auf ihre Daten zugreifen darf. Das EPD könnte so etwas ermöglichen.

«Was wir im Gesundheitswesen brauchen, ist der Mut, die Leidenschaft und den Willen, diese technologischen, aber vor allem auch kulturellen Veränderungen gemeinsam anzugehen.»

Sie sprechen gerne von «kultureller Interoperabilität». Was versteht man darunter?

Im Zusammenhang mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen spricht man häufig von Interoperabilität. Damit ist gemeint, dass medizinische Daten standardisiert sind. Erst durch diese Standardisierung können sie zwischen zwei Akteuren im Gesundheitswesen ausgetauscht werden, zum Beispiel zwischen Arztpraxen und Spitälern. Ohne Interoperabilität nützen uns Daten nichts. Dieser technische Aspekt der Anschlussfähigkeit von Systemen und Technologien geniesst hohe Aufmerksamkeit, und wir investieren dafür Zeit und Geld. Dabei geht vergessen, dass wir in einem Veränderungsprozess stecken, der weit über die Technologie hinausgeht. Die gegenwärtige Transformation des Gesundheitswesens verlangt nicht nur nach anschlussfähigen Daten und Technologien, sondern auch nach anschlussfähigen Ideen und gemeinsamen Visionen. Dafür habe ich den Begriff der «kulturellen» Interoperabilität geschaffen. Was wir im Gesundheitswesen brauchen, ist der Mut, die Leidenschaft und den Willen, diese technologischen, aber vor allem auch kulturellen Veränderungen gemeinsam anzugehen.

Sind wir mit dem EPD gut unterwegs?

Was das EPD jetzt braucht, ist ein klares politisches Bekenntnis zur digitalen Transformation in all ihren Facetten. Und zwar auf nationaler Ebene. Ich wünschte mir, dass sich der Gesundheitsminister der Thematik mit noch mehr Leidenschaft annähme. Zudem würden klare Vorgaben zur Interoperabilität auf Bundesebene und eine schnelle Lösung der Fragen zur eID helfen. Wir brauchen eine gemeinsame Strategie. Die regional- und standespolitischen Interessen – Föderalismus hin oder her – müssen in den Hintergrund treten.

*Prof. Dr. Andrea Belliger ist Professorin und Prorektorin der Pädagogischen Hochschule und Co-Leiterin des Instituts für Kommunikation und Führung IKF in Luzern. Sie ist Expertin für Digitale Transformation und Verwaltungsrätin in nationalen und internationalen Unternehmen, u.a. bei der AKB, der Zur Rose Group, bei Lernetz und dem Sozialversicherungszentrum WAS

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